Digitale Demokratie: Wie das Internet unsere Institutionen durchschüttelt
Das Internet durchdringt seit Jahren alle Bereiche in Wirtschaft und Gesellschaft. Die Digitalisierung nimmt auch zunehmend Einfluss auf die Politik. Das Buch «Automated Democracy» beschreibt die Einflüsse des Internets und gibt Ratschläge, wie man damit umgehen kann.
Wohin geht unsere Entwicklung? Bild: Wikipedia
Der Untertitel des Buches lautet: «Die Neuverteilung von Macht und Einfluss im digitalen Staat». Die Digitalisierung schreitet voran und stellt viele gewohnte Dinge und Abläufe auf den Kopf. Offensichtlich hat das Internet auch auf die Politik und unsere Form der Demokratie einen grossen Einfluss. Die Umgestaltung von Institutionen und politischen Prozessen hat bereits begonnen. Wirtschaftsprofessor Bruno Frey und Christian Ulbrich, Leiter der Forschungsstelle für Digitalisierung in Staat und Verwaltung an der Universität Basel, haben ein lesenswertes Buch zu diesem Thema geschrieben.
Digitalisierung durchdringt Politik
Der erste Teil des Buches «Die unvermeidliche Geburt des digitalen Staates» beschreibt die Umstände, wie die Digitalisierung des Alltags auch die Politik und die demokratischen Prozesse beeinflusst. Die Autoren beschreiben, wie das Internet viele Bereiche in der Wirtschaft auf den Kopf gestellt hat. Sie erläutern Analogien für demokratische und parlamentarische Prozesse und zeigen auf, welche bislang zu wenig beachteten Risiken und Chancen sich für die Demokratie ergeben. Im zweiten Teil sind wesentliche digitale Dynamiken und Mechanismen erklärt. Die Autoren gehen davon aus, dass die Entwicklung hin zu einem digital- technologischen Staatsapparat kein Selbstläufer ist. Aktive Mitgestaltung der politischen Prozesse ist dringend nötig. Im dritten Teil nennen die Autoren eine Palette von Massnahmen, welche die Politik ergreifen kann, um die Digitalisierung mitzugestalten. Unsere direkte Demokratie, der soziale Zusammenhalt und auch der Wohlstand hängen davon ab, wie dieser Wandel aktiv beeinflusst wird.
Grenzkosten, nicht Verschwörung
Das Buch erklärt anschaulich ökonomische Fachbegriffe. Wer sich wundert, warum sich das Internet im politischen Alltag rasend schnell ausweitet, soll nicht Verschwörungstheorien nachhängen, sondern sich mit dem ökonomischen Ausdruck «Grenzkosten» befassen. Die Grenzkosten bezeichnen die Produktionskosten von einem zusätzlich hergestellten Stück. Beispiel Kuchenblech: Wer Kuchenbleche produziert, bezahlt 10 000 Franken für eine Stanzmaschine und 1 Franken für das Material. Ein Kuchenblech kostet 10 001 Franken in der Produktion. Wer 10 000 Stück herstellt, bezahlt im Schnitt noch 2 Franken, 1 Franken Anteil an der Maschine und 1 Franken für das Material. Die Grenzkosten bei der Kuchenblech-Herstellung betragen also 2 Franken. Ein Phänomen im Internet ist, dass die Grenzkosten praktisch gegen null sinken. Beispiel Schallplatten: Die Produktionskosten entstehen ähnlich wie beim Kuchenblech, Pressmaschine, Materialkosten und Versand. Hingegen sinken die Grenzkosten einer Ton-Datei im Internet gegen null. Es entstehen praktisch keine Zusatzkosten, ob ich eine einzelne Datei versende oder hunderttausende. Das hat Einfluss auf den Markt: Die Schallplattenfirmen sind verschwunden und wurden durch digitale Musikplattformen im Internet ersetzt. Die Autoren analysieren, ob sich mit der Digitalisierung auch im politischen Prozess oder bei Volksabstimmungen solche Plattformen bilden können. Dies hätte einen massiven Bedeutungsschwund für die Legislative und massive Macht-Umverteilungen zur Folge.
Anschaulich und verständlich geschrieben
Originell sind die Abschnitte, in denen «eine mögliche Zukunft» beschrieben ist. Offensichtliche Vorteile des Internets können auch ins Negative kippen. Beispielsweise sind Fahrleitungssysteme, bei denen freie Parkplätze im Auto- Bildschirm angezeigt werden, von Vorteil. Auch Hinweise auf Gefahren können Unfallzahlen senken. Ins Negative, gar diktatorische, können die automatisierten Systeme kippen, wenn sie einem zentralisierten Staat als Überwachungsmittel dienen. Auch nehmen die Kontrollsysteme dem Individuum ein Stück Freiheit weg. Das Buch ist auch in Abschnitten lesbar. Es ist flüssig geschrieben und mit vielen, realitätsnahen Beispielen versehen. Im letzten Abschnitt «auf einen Blick» ist das Buch tabellarisch zusammengefasst. Wer in der Politik tätig ist, sollte sich intensiv mit der Digitalisierung und ihrer Auswirkung auf die Politik befassen. Das vorliegende Buch ist dazu ideal geeignet.
Christian R. Ulbrich, Bruno S. Frey Automated Democracy: Die Neuverteilung von Macht und Einfluss im digitalen Staat Verlag Herder, 1. Auflage 2024 Gebunden, 384 Seiten, 39 FR. ISBN: 978–3-451–39696–0