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Geopolitik – verschobene Wirklichkeiten hinter den Kulissen

Wer nicht mit offenen Augen in Fallen laufen will, muss die deklarierte von der wirklichen Strategie unterscheiden. Versuch eines Blickes hinter die Fassaden.

Kriege, die innerstaatlich von einer «regulären» Armee gegen eine «irreguläre» Guerillaorganisation geführt werden, werden als asymmetrisch bezeichnet, solche zwischen staatlichen Armeen aber als symmetrisch. In beide Händel haben sich Neutrale nicht  einzumischen. Im Ukraine-Krieg zeigt es sich jedoch, dass eine neue Art von Asymmetrie aufritt, die Anlass zur Sorge gibt. 

Strategische Symmetrie – aus dem Gleichgeweicht gefallen

Eine erste Asymmetrie besteht darin, dass eine Atommacht einen Staat angreift, der über keine Atomwaffen mehr verfügt, seit er diese – unter der Garantie der Unversehrtheit der eigenen Grenze! – an Russland abgetreten hat. Und diese Schieflage wird besonders dramatisch, wenn die Atommacht immer wieder mit dem Einsatz von  Nuklearwaffen droht. Eine weitere Asymmetrie zeigt sich, weil der Krieg auf dem Boden des angegriffenen Staates geführt wird. Die unermesslichen Schäden an der Infrastruktur und die zivilen Opfer werden exklusiv beim angegriffenen Staat angerichtet.

Eine zusätzliche Schlagseite bekommt die nicht mehr gegebene Symmetrie durch den Umstand, dass beim Verteidiger reguläre Truppen ihren Blutzoll lassen müssen, Menschen,  die durch den Krieg aus ihren Familien gerissen werden. Die Angreifer setzen aber mit den Wagner-Truppen paramilitärische Milizen ein, bezahlte Söldner, die sich einen Deut um Kriegs- und Völkerrecht scheren. Bis zum Kippen verschärft wird diese Asymmetrie durch die Rekrutierung von Straftätern aus Gefängnissen: Das Kriminelle wird so gegen das Menschenrecht eingesetzt.

Gesellschaftliche Asymmetrie

Auch die Symmetrie unter der Bevölkerung ist aus dem Gleichgewicht gebracht worden: So wird im totalitären System von Russland die Öffentlichkeit durch die Staatspropaganda in wesentlichen Teilen gleichgeschaltet, wobei für jede Kritik, einschliesslich die Verwendung des Wortes «Krieg» statt «Spezialoperation», Gefängnis und Straflager droht. Während dort die öffentliche Meinung manipuliert wird, so herrscht im demokratischen Westen Meinungs- und Redefreiheit: hier können sich nicht nur Putin-Versteher, sondern auch Putin-Verklärer frei äussern. Finden sich solche an Hochschulen, so können sie sich wie ein Politologe, der den Neorealisten zugerechnet wird, hinter ihren Theorien verschanzen und ernten allenfalls wissenschaftliche Kritik, aber keine staatlichen Verfahren.

Nun haben aber diese Asymmetrien gravierende geostrategische und geopolitische Folgen: Die Machthaber im Kreml – es geht wohl nicht nur um Putin allein –  könnten darauf spekulieren, dass sich im Westen längerfristig, auch durch den freien Diskurs, eine Kriegsmüdigkeit breit macht und die Unterstützung der Ukraine mit der Zeit abnehmen könnte. Das wäre das Kalkül des Abnützungskrieges.

Asymmetrie bei der Unterstützung

Weiter wird die Symmetrie verschoben, wenn sich Öffentlichkeit und Politik im demokratischen Westen durch die atomaren Drohungen und die Angst vor einem dritten Weltkrieg – wirtschaftlich ist es womöglich bereits ein solcher – beeindrucken lässt. Das führt zu einer Unterstützung des angegriffenen Staates mit einer «angezogenen Handbremse», so wie bei der Lieferung von Verteidigungswaffen. Wie lange wurde Zeit verloren mit den Diskussionen und Erwägungen um die Freilassung der Leoparden und die Aufmunitionierung der Geparden, die der Luftabwehr dienen? Da haben wir eine weitere Asymmetrie: während die Russen Angriffswaffen einsetzen, erhielten die Ukrainer explizit Waffen zu Verteidigung.

Das Tragische an diesem Zaudern ist, dass dadurch die Russen ihre Stellungen stark befestigen konnten, was auch zu Verlusten in der ersten Phase der Gegenoffensive zur Befreiung des ukrainischen Territoriums führte. Ein «Close Air Support», also die Gefechtsfeldunterstützung aus der Luft, gilt als zwingende Voraussetzung für den Erfolg einer solchen Operation. Und genau diese Luftüberlegenheit, geschweige denn eine Luftherrschaft, ist ohne moderne Kampfjets nicht möglich; genau  an dieser Unterstützung aus dem Westen fehlt es bislang. Da ist jede westliche Ungeduld über den schleppenden Fortgang der Offensive fehl am Platze.

Pazifismus im Dienste des Kreml

Wer den pazifistischen Vorwurf erhebt, dass die Waffenlieferungen den Krieg verlängern, demaskiert sich selbst: weil eine solche Forderung angesichts der Asymmetrie auf einen Sieg von Russland hinauslaufen müsste. Und eine solche Honorierung der Kriegsverbrechen würde weitere Aggressionen fördern. Dann wäre das Baltikum und Polen die nächsten Kriegsziele, so wie wir das schon vor längerer Zeit beschrieben haben. Dass der Westen die Missachtung des Völkerrechtes durch die Annexion der Krim nicht sanktioniert hat, sondern dem wüsten Treiben weitgehend zusah, erweist sich für alle einsichtig nun als fataler Fehler: Geopolitisch denkend hätte man den man allerdings voraussehen können.

Eine zusätzliche Asymmetrie besteht darin, dass der Kreml auf eine blosse Erhöhung der Verteidigungsbereitschaft des Westens sogleich mit Drohungen reagiert. Soll damit die eigene Schwäche kompensiert werden, weil die Führungsstruktur der russischen Armee offenbar gespalten, hinter den Fassaden vielleicht gar teilweise in Auflösung begriffen ist? Nach der Meuterei von Prigoschin zeigt dies die Entlassung des Generals Ivan Popow, der mit seiner Kritik auch in der Öffentlichkeit nicht mehr zurückhält. Drohungen als letztes Mittel zeigt die eigentliche Schwäche: gefährlich daran ist, auch für unsere eigene Freiheit, wenn man sich im Westen davon beeindrucken lässt.

Schaden durch Opportunisten

Zu den Drohungen passen auch die Erpressungen mit dem Getreideabkommen. Da nimmt sich der Kreml offenbar die armen Völker in Afrika als Geisel. Diese sollten erkennen, was hier gespielt wird, statt sich in der UNO bei der Verurteilung des Angriffskrieges aus opportunistischen Gründen «neutral» zu verhalten.

Ein anderer Akteur auf der Bühne, der Druck und Erpressung zum eigenen Vorteil rücksichtslos gegenüber dem geostrategischen Kollateralschaden einsetzt, ist Erdogan. So blockierte er die Aufnahme der skandinavischen Länder in die NATO lange Zeit, denn die Türkei ist ein Mitglied des Atlantikpaktes in einer strategisch besonders wichtigen Scharnierstellung zwischen Europa und Asien. Wer den plötzlichen Gesinnungswandel am Gipfel in Vilnius augenreibend glaubte, weiss nicht, welches die wirkliche Strategie ist. Und da ist es noch ein zeitlich langer Weg bis zur scheinbar bloss formellen Zustimmung des türkischen Parlamentes, ein Pfad, der mit Minen weiterer Forderungen gespickt sein könnte.

Neutralität im Spannungsfeld

Es ist sicher richtig, wenn die Schweiz, dem Ratschlag von Bruder Klaus «mischt euch nicht in fremde Händel» folgend, neutral bleibt wie in den ersten beiden Weltkriegen und auch künftig weder der NATO noch der EU beitritt. Diese Neutralität hat ihre Tradition in den Zeiten von symmetrischen Konflikten und Kriegen. Wie ist sie nun unter den Bedingungen der Asymmetrie zu positionieren?

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