Liebe Demokratie
Echte Demokratien sind spärlich gesät. Unser Recht auf Mitbestimmung ist ein Privileg. In wenigen Tagen haben wir die Gelegenheit, zu zeigen, dass wir dieses wertschätzen.
Nutzen wir unser politisches Recht und bestimmen mit, wer die nächsten vier Jahre im Nationalrat in Bern sitzt. (Bild: Flickr)
Liebe Demokratie, ich schreibe dir ein paar Zeilen, um meine Ernüchterung mit dir zu teilen. Im Rahmen meines Nationalratswahlkampfes kam ich mit zahlreichen Menschen ins Gespräch, eine positive und spannende Erfahrung. Jedoch stellte ich auch fest, dass viele Menschen gar nicht wählen gehen. «Ich gehe nie wählen», sagten sie mir. Dies offenbar aus unterschiedlichen Gründen: «Es bringt sowieso nichts», oder «Es ist zu kompliziert». Da frage ich mich, liebe Demokratie, was denn mit den Leuten los ist. Verstehen diese nicht, welch Privileg es ist, das demokratische Recht des Wählens ausüben zu dürfen? Man muss nur über die Schweizer Grenze schauen, um zu erkennen, dass demokratische Werte alles andere als selbstverständlich sind.
Demokratien sind selten
So zeigt mir der Demokratieindex 2022 (https://www.eiu.com/n/campaigns/democracy- index-2022), dass es dich weltweit leider gar nicht so häufig gibt, wie ich angenommen hatte. In sogenannt «Vollständigen Demokratien» leben nämlich nur gerade 8% der Weltbevölkerung, darunter die Schweizer. Demgegenüber sind es 54%, die in einer «unvollständigen » bzw. «hybriden» Form leben. Über 37% der Menschen leben in einem autoritären Regime, also in einer Diktatur irgendeiner Form. Diese Zahlen zeigen, dass nur wenige Menschen das Vorrecht haben, mittels Wahlen mitzubestimmen. Wahlen und Abstimmungen sind nur ein Merkmal einer funktionierenden Demokratie: Das Volk ist der Souverän, das heisst die Macht im Staat geht von der Gesamtheit der Staatsbürger aus. Als zweites Merkmal ist die Gewaltenteilung zu nennen, welche die Staatsgewalt in Parlament, Regierung und richterliche Gewalt aufteilt, also in die Legislative, die Exekutive und die Judikative. Drittens das Prinzip der Gleichheit: alle Bürger und Bürgerinnen haben vor dem Gesetz die gleichen Rechte. Die grundlegenden Rechte, viertens, beinhalten Rechte wie Meinungs- und Pressefreiheit. Zu guter Letzt gehört auch der Pluralismus dazu, was bedeutet, dass eine Vielzahl von Parteien politisieren.
Die Mehrheit der Menschen beneidet uns
Ich frage mich: Was würden wohl 92% der Welt zu unserem Desinteresse an demokratischen Prozessen sagen? Was würden diese Menschen alles geben, um nur einmal den Volkswillen im Parlament bzw. in der Regierung abgebildet zu sehen? Eine freie, gleiche, geheime Wahl – für diesen Traum gehen so viele Menschen weltweit auf die Strassen und riskieren ihr Leben. Wir, die Privilegierten, die nicht wählen gehen, sollten uns schämen. Zum letzten Merkmal, dem Pluralismus möchte ich dir nochmals mein Herz ausschütten, liebe Demokratie. Insbesondere, weil neulich in den Medien die «Flyer-Flut» der Nationalratskandidaten in die Briefkästen oder die vielen Plakate an den Strassenrändern kritisiert wurden. Bei den Kommentaren zu diesem Bericht gab es kaum positive Stimmen. Scheinbar entsorgt ein Grossteil der Leute die Flyer unmittelbar, ohne einen Blick darauf geworfen zu haben. Entweder landen die Flyer im Altpapier oder aber sie werden in die gelben Post-Briefkästen geworfen. Hier frage ich mich: Was ist uns lieber? Dass die Medien für uns vorselektionieren, von wem wir hören und was wir lesen sollen, oder, dass anstelle vieler diverser Plakate nur noch ein Staatsplakat zu sehen wäre? Ach, ich wünschte mir, dass wir dich, liebe Demokratie, wieder mehr wertschätzen. Beweisen wir es, indem wir wählen gehen. Leben wir unsere Demokratie und motivieren wir unsere Familien, Nachbarn und Freunde das gleiche zu tun. In zwei Tagen sind die Wahlen schon wieder vorbei. Geniessen wir unser Privileg.