Mehr Örtligeist!
Wer benutzt heute noch den Begriff «Örtligeist»? Trotzdem versteht jeder gleich, was damit gemeint ist. Der uns noch geläufigere Begriff «Kantönligeist» hat eine ähnliche Bedeutung. Sie sind beide negativ gemeint.
Für gewisse Orte können eigene, von anderen Orten abweichende Regeln, punktuell sinnvoll sein. Bild: Pixabay
Mit dem Begriff «Örtligeist» drückt man zum Beispiel den Unmut darüber aus, dass sich Orte in gewissen Bereichen eigene, von anderen Orten abweichende Regeln geben. Das sei engstirnig, da sie nicht über ihre Grenzen hinausdächten. Viele unterschiedliche Regeln bedeuten zudem mehr Bürokratie. Sprich, es ginge viel einfacher, wenn es nur eine «gemeinsame » Regel gäbe. Ist sich denn jeder bewusst, woher diese «gemeinsame» Regel käme? Denn eine einzige «gemeinsame» Regel ist gleichbedeutend mit mehr Zentralismus – das heisst mit mehr Kantonshauptort, mehr Bern oder, heutzutage wahrscheinlicher, mehr Brüssel. Dabei ist vielfach erwiesen, dass die Bürokratie mit weniger unterschiedlichen Regeln nicht ab-, sondern zunimmt.
Der Zentralstaat ist gefrässig
Er entdeckt immer neue Bereiche, die er mit «gemeinsamen» Regeln regelt. Und er tut das umso gründlicher und detaillierter, wie uns die EU fast schon täglich aufzeigt. Mit dem schleichenden Verzicht auf unterschiedliche Regeln geben wir in der Schweiz ein wichtiges Korrektiv aus der Hand, nämlich etwas weniger detailliert oder gar nicht zu regeln. Gerade letztere Option, etwas nicht zu regeln, geht heute oft vergessen. Wenn wir sehen, dass es anderswo mit weniger oder gar keinen Regeln besser funktioniert, kopieren wir das. Dieser Mechanismus hilft uns also, die besten Regeln überhaupt zu entdecken. «Gemeinsame » Regeln zerstören ihn.
Rahmenabkommen
Derzeit verhandelt die Schweiz mit dem Rahmenabkommen über eine automatische Übernahme solcher «gemeinsamer» Regeln. Viele dieser «gemeinsamen» Regeln würden wir von uns aus nicht kopieren, weil wir sehen, dass sie eine der Ursachen für die negative Entwicklung der EU sind. Genau solche Regeln werden uns aber mit dem Rahmenabkommen aufgedrückt. In der Verhandlungsgrundlage für das Rahmenabkommen, dem «Common Understanding», heisst es zu Beginn, dass die Beziehung Schweiz – EU auf «gleichen Werten» beruht. Das ist ein Missverständnis. Die dezentrale Staatsform mit unterschiedlichen Regeln ist grundsätzlich inkompatibel mit der zentralisierten EU und ihren «gemeinsamen» Regeln. Aber machen wir uns nichts vor: Auch in der Schweiz sind die unterschiedlichen Regeln, also der Föderalismus, gewaltig unter Druck. Das zeigt der Rückgang des Begriffs «Örtligeist» in den letzten hundert Jahren deutlich auf. Nichtsdestotrotz macht der «Örtligeist» immer noch den Kern der Schweiz aus. Die Schweiz ist im Gegensatz zur EU von unten nach oben organisiert. Wir sollten dem «Örtligeist » wieder mehr Beachtung schenken. Er ist auch ein Zeichen für die Vielfalt unseres Landes.